Die 8 Themen der Neutralität

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Was nützt uns Neutralität heute?

von Wolf Linder

Neutralität- unser Leuchtturm in stürmischer Zeit

Denken Sie nach: Was wäre die Schweiz noch ohne Neutralität? Heidiland, Land der Banken, der Uhren und des Emmentalers? – «Wir sind neutral»- das ist schweizerische Geschichte und ein wichtiger Teil unseres Heimatgefühls. Auch in Zukunft hilft die Neutralität, den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu bewahren. Wir sollten darauf nicht verzichten.

Wir leben mitten in einer Zeit geopolitischer Umwälzungen und Krisen. Im militärischen Bereich wird zum globalen Wettrüsten aufgerufen. «Kriegstüchtig» werden? Lieber nicht. Wir halten uns besser an den Verfassungsauftrag der Armee: das eigene Land zu verteidigen.

Wirtschaftspolitisch werden China, Indien und viele Länder des Südens stärker. Sie verlangen Änderungen der bislang vom Westen diktierten Spielregeln. Das bringt Konflikte: Wirtschaftskriege sind am Laufen und die Gefahr eines neuen Weltkriegs droht. Kluge Aussenwirtschaftspolitik sieht dies voraus. Sie versucht weiterhin, mit möglichst vielen Ländern gute Wirtschaftsbeziehungen zu pflegen. Doch sollte sie den Forderungen der armen Länder nach selbständiger Entwicklung und fairen Handelsbeziehungen stärker gewichten. Und in den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd kann die Schweiz ihre «Guten Dienste» anbieten, wenn sie sich zur Neutralität bekennt.

Neutralität als Klammer des Zusammenhalts

«Wir sind neutral». Dieser Satz weckt bei Schweizerinnen und Schweizern viele Gefühle: Die Dankbarkeit für eine Geschichte, in denen Neutralität half, Frieden im Innern zu bewahren. Dankbarkeit auch dafür, dass wir das 20. Jahrhundert im kriegerischen Europa in Unabhängigkeit bestanden haben. Gemischte Gefühle, weil Neutralität auch Schattenseiten hat: Selbstgerechtigkeit oder Opportunismus, auf die wir nicht stolz sind. Dennoch die Zuversicht: der andere Weg, den die Schweiz mit ihrer bisher verlässlichen Aussenpoltik ging, ist richtig, auch wenn unsere Neutralität derzeit vom einigen EU-Ländern derzeit heftig kritisiert wird.

Was aber wäre, wenn die Schweizerinnen und Schweizer sagen würden: «Wir sind nicht mehr neutral»? Wer wären wir dann noch? Heidiland, Land der Banken, der Uhren und des Emmentalers? Damit könnten Leute, die nur aufs Geld schauen, leben. Aber etwas Unersetzliches fiele weg: die Neutralität als Klammer für den inneren Zusammenhalt. Für den politischen Zusammenhalt sorgen zwar direkte Demokratie, Föderalismus und der politische Kompromiss als Ergebnis der Verständigung. Trotzdem müssen wir uns Sorgan machen: Unser Zusammenhalt wird schwächer. Die politischen Polarisierung, der Stadt-Land Gegensatz, eine grössere Kluft zwischen Arm und Reich, die ungelösten Probleme der grossen Zuwanderung, zerstrittene Immigrationsgruppen, die sich hinter oder gegen ihr Heimatland stellen, sind Stichworte. Und: Haben wir bereits vergessen, wie unschweizerisch in der Corona-Pandemie mit jenen umgegangen wurde, die eine Impfung verweigerten? Auch die weltgeschichtlichen Krisen und ihr Elend – Ukraine, Palästina, Klimaerwärmung – können uns nicht gleichgültig sein. Nur berichten die Medien darüber derzeit oft einseitig, tendenziös und teilen die Welt in die »Guten» und die «Schlechten» sind. Das polarisiert, verhindert die Einsicht in das meist komplexe Konfliktgeschehen, Es erstickt den offenen Dialog über die weltpolitischen Ereignisse, in denen wir mitten drin stehen.

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft wird schwieriger und schwächer. Die verbindende Klammer der schweizerischen Neutralität wird deshalb um so wichtiger.

«Kriegstüchtig» werden? Nein!

Der Ukraine-Krieg hat die Hoffnungen auf einen europäischen Frieden zunichte gemacht. Misstrauen und Angst vor einem russischen Angriff werden geschürt und veranlassen die europäischen Politiker zu drastischen Erhöhungen der Militärausgaben. Die Ungewissheit über Krieg und Frieden hat auch in anderen Weltregionen zugenommen. Das Wettrüsten ist global.

Richtig: Die Sicherheit von gestern ist weg. Das gilt auch für unser Land. Viele wollen sich daher unter den Schutzschild der NATO stellen. Wir haben unter dem Stichwort «Mehr Nato…?» die Gründe erläutert, warum wir uns gegen die NATO-Eingliederung stellen. Aber die Schweiz sollte sich auch nicht an einem europäschen Wettrüsten beteiligen, das konzeptlos ist und nur eines kennt: «Mehr Waffen»!?

Wir stehen dagegen hinter einer schweizerischen Armee, die ihren Auftrag der Landesverteidigung nach besten Kräften erfüllen kann. Dass es dafür heute mehr Geld braucht als gestern leuchtet ein. Doch Geld reicht auch für die schweizerische Armee nicht aus: Sie braucht ein Konzept. Aber bestimmt nicht jenes, das der deutsche Verteidigungsministers Pistorius vertritt. Im Oktober 2023 erklärte er: «Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen». Kriegstüchtigkeit statt Verteidigungbereitschaft? Die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen? Kriegstüchtigkeit als «neuer Lifestile»? Da wird ein tiefer Mentalitätswandel vorbereitet. Wir blicken in Abgründe, die allen vernünftigen Menschen die Haare zu Berg stehen lassen.

Bleiben wir also bei einer schweizerischen Armee, die bereit ist für die militärische Verteidigung des eigenen Landes. Nicht mehr und nicht weniger. Technisch-militärische Zusammenarbeit mit andern Ländern mag vernünftig tönen. Was immer aber zu der Erwartung oder gar zu der Verpflichtung der «Kriegsbereitschaft» in einem Militärbündnis führt, lehnen wir ab. Das bring nicht mehr Sicherheit, aber es untergräbt die Neutralität.

Neutralität erlaubt fairen Handel mit allen

Der wirtschaftliche Wettbewerb ist global, und jedes Land will möglichst viel für sich herausholen. Damit dieser Wettbewerb nicht ruinös wird, braucht es Regeln. Doch was der Westen derzeit als «regelbasierte Ordnung» beschwört, ist anderes als das, was das Völkerrecht und die UN Charta vorgeben. So weicht internationales Recht dem Recht des Stärkeren. Die USA unterlaufen mit ihren Zöllen jene Handelsabkommen, die nach Ansicht von Präsident Trump dem eigenen Land schaden. Ob und mit welchen Machtmitteln Trump seinen «Deal» wahrmachen will, um Kanada, Grönland und den Panamakanal unter seine Kontrolle zu bringen, wissen wir nicht. Auch von anderer Seite wächst der Widerstand gegen die globale Wettbewerbsordnung, so von den BRICS-Staaten und vielen Ländern des Südens. Sie halten die derzeitige «regelbasierte Ordnung» für ein neokoloniales Diktat des Westens und verlangen Änderungen. Ob das auf friedlichem Weg zustandekommen wird und wie eine solche «regelbasierte Ordnung» aussehen kann, steht in den Sternen.

Was heisst das für unser Land und seine Neutralität? Die Schweiz soll dem bisherigen Erfolgsweg folgen: Ja zu einem freien Welthandel, um ihre Exportprodukte zu verkaufen. Fair ist der Freihandel aber nur, wenn die beteiligen Staaten einen einigermassen vergleichbaren technologischen und sozioökonomischen Stand erreicht haben Neutralität nun ist wirtschaftlich relevant und kann Vorteile erbringen. So gehen die guten Handelsbeziehungen unseres Landes mit China auf das Jahr 1950 zurück. Damals nahm die neutrale Schweiz als fast erstes westliches Land diplomatische Beziehungen mit dem kommunistischen China auf. Kritiker halten solches für unmoralisch: Neutralität helfe nur der Geschäftemacherei mit autoritären Regimes. Und ja: ausbeuterische Geschäfte im Rohstoffhandel oder die Investitionsbetrüge der einstigen Credit Suisse in Mozambique sind nicht zu leugnen. Aber die Folgerung der Moralisten ist ein Trugschluss: diese Geschäfte wären auch ohne Neutralität zustandegekommen. Und sie werden nicht weniger oder seltener ohne die Neutralität. Unfaire Händel einzudämmen, hat mit der Neutralität am wenigsten zu tun, sondern ist Aufgabe unserer Aussenwirtschaftspolitik und einer globalen «regelbasierten Weltwirtschaftsordnung».

Der Anteil Europas an der Weltbevölkerung beträgt heute noch rund 7 Prozent, seine Wirtschaftsleistung grob das Doppelte. Die grossen Märkte der Zukunft liegen anderwo. Mit gutem Grund versucht die Schweiz deshalb, gute Wirtschaftsbeziehungen nicht nur zu Europa, sondern zu möglichst vielen Staaten in allen Weltregionen zu pflegen. Auch mit jenen Ländern, die unsere westlichen Vorstellungen von Demokratie oder Menschenrechten nicht teilen. Selbstverständlich darf die Schweiz in Wirtschaftsverhandlungen ihre eigenen Vorstellungen einbringen. Dies aber mit dem gebotenen Respekt für die Gesellschaftsordnung anderer. Umgekehrt sind Handelsverträge der Ort, wo Entwicklungsländer ihre Forderungen nach autonomer Wirtschaftsentwicklung und fairem Handel geltend machen können.

Auf den beiden letzten Punkte werden die armen Länder künftig mit grösserem Gewicht beharren, und sie werden Teil einer neuen «regelbasierten Weltwirtschaftsordnung» sein. Bis diese steht, sind grössere Auseinandersetzungen, wenn nicht gar Wirtschaftskriege zu erwarten. Die kluge Aussenhandelspolitik eines Neutralen sieht solches voraus. Und sie bemüht sich, auch im Ausgleich zwischen Nord und Süd ihre «guten Dienste» anzubieten.

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