Neutralität als Friedensinstrument ohne Sanktionen
von Pascal Lottaz
Sanktionen sind Gift für die Friedensvermittlung und die Glaubwürdigkeit eines neutralen Staates.
Böse Zungen behaupten, Neutralitätsbefürworter seien naiv und sässen einer “Lebenslüge” auf, wenn sie den Verzicht auf Sanktionen fordern. Neutralität ohne Sanktionen diene nur der Geldmacherei und nicht dem Frieden. In Tat und Wahrheit sind Handel und Diplomatie zwei Seiten der gleichen Medaille. Wer Sanktionen verhängt darf sich nicht wundern, wenn der davon betroffene Staat diplomatisch nichts oder fast nichts mehr mit ihm zu tun haben will. So hat im August 2022 die Ukraine die Schweiz um ihre “Guten Dienste” im Konflikt mit Russland angefragt; Bern war bereit, dies zu tun. Doch Moskau sagte “Niet”! Denn Russland anerkennt die Schweiz nicht mehr als fairen neutralen Staat, der alle Seiten gleichbehandelt. Neutralität als Friedensinstrument verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn man politisch Partei ergreift. Denn Sanktionen sind Teil der Kriegs- und nicht einer Friedenslogik. Auf letztere müssen wir uns zurückbesinnen.
Neutralität ist keine abstrakte Materie, die nur eingeweihte Volks- und Staatsrechtler richtig fassen können. Ganz im Gegenteil. Im täglichen Umgang mit persönlichen Konflikten ist sie ein intuitiv verständliches Prinzip. Wenn Zwei sich streiten und ein Dritter ergreift Partei, dann wird die benachteiligte Seite auch auf ihn wütend. Soll aber der Streit geschlichtet werden, erwarten beide Seiten, dass der Dritte unparteilich ist. Wer von beiden Seiten eines Konfliktes akzeptiert werden will, darf sich also nicht auf die eine oder auf die andere Seite stellen, sondern muss Verständnis für beide Seiten zeigen. In der Konfliktforschung spricht man von der «Allparteilichkeit». Das heisst: Wer vermitteln will, muss die Sichtweise beider Parteien verstehen können —ohne sie dabei zu der eigenen Position zu machen.
In der internationalen Politik sind zwar die Konfliktdynamiken um ein Vielfaches höher als bei einem persönlichen Streit. Doch die Logik bleibt dieselbe. Darum ist im Völkerrecht die Idee der Unparteilichkeit ein zentraler Grundsatz für die Konfliktbewältigung durch Vermittler oder Mediatoren. Letztere sind nicht Verbündete. Ihre Aufgabe verlangt Einfühlung und Verständnis für beide Seiten. Das heisst weder, dass sie die Taten der Parteien gutheissen, noch dass sie deren Positionen moralisch verteidigen. Einen Konflikt aus der Sicht einer Konfliktpartei erklären zu können, bedeutet nicht, diese zu rechtfertigen. Sie ist aber die notwendige Voraussetzung dafür, beide Seiten aus ihrer jeweiligen Warte heraus verstehen zu können. In Kriegen können nur Dritt-Parteien, die sich nicht eindeutig hinter die eine oder die andere Seite stellen, vernünftig mit beiden Seiten umgehen und vermitteln.
Sanktionen sind einseitige Aktionen, mit denen einem andern Staat Nachteile zugefügt werden sollen. Völkerrechtlich gerechtfertigt sind solche Massnahmen gegen Staaten, welche die Regeln des internationalen Rechts verletzten. Sanktionen werden heute aber zunehmend als Instrumente von rivalisierenden Staaten als Mittel ihres «Handelskriegs» ergriffen. Das Neutralitätsrecht (als ein Teil des Völkerrechtes) kennt keine Vorschriften bezüglich des wirtschaftlichen Verhaltens neutraler Staaten. Trotzdem bedeutet die absichtliche wirtschaftliche Benachteiligung einer von zwei Parteien in einem Krieg eine eindeutige Parteiergreifung.
Dies zeigte sich eindrucksvoll in den frühen Monaten des Russisch-Ukrainischen Krieges 2022, als die damals einzigen vielversprechenden Friedensgespräche zwischen den beiden Kriegsparteien stattfanden. Vermittler waren Weissrussland und die Türkei, obwohl beide – sei es als befreundeter Staat oder als NATO- Mitglied – formell je einer Konfliktpartei nahestanden. Doch Russland wie die Ukraine vertrauten der relativen Unparteilichkeit der beiden Vermittler, zumal die Türkei die EU-Sanktionen nicht mittrug. So wurden Minsk und Istanbul zum Ort der Friedensgespräche – und nicht etwa Genf: Mit der Übernahme der EU-Sanktionen verlor die Schweiz gegenüber Russland ihre Glaubwürdigkeit als neutraler Staat. Damit verlor sie auch jene Vermittlerrolle, die sie in der Vergangenheit in Tschetschenien oder in Georgien innehatte. Daran änderte die Konferenz auf dem Bürgenstock 2024 nichts: als «Friedensgipfel» konnte sie jedenfalls nicht bezeichnet werden, da die eine Kriegspartei – Russland – gar nicht dabei war.
Dass die Schweiz sich selber weiterhin als neutral bezeichnet, spielt in diesem Fall keine Rolle. Neutralität kann nur so weit Wirkung entfalten, als sie gegenüber Dritten glaubwürdig erscheint. Wenn kriegsführende Staaten die Schweiz nicht tatsächlich als (mehr oder weniger) neutral wahrnehmen, kann sie keine Vermittlerrolle einnehmen. Will sie weiterhin ihre «Guten Dienste» anbieten, so ist sie gut beraten, sich wenn immer möglich fernzuhalten von Sanktionslisten und anderen Druckmitteln auf Drittstaaten.
Auf folgenden Gründen sind wir grundsätzlich skeptisch gegenüber Sanktionen:
– oft werden sie willkürlich von mächtigen Staaten gegen schwache verhängt,
– sie treffen die einfachen Leute und die Armen, kaum aber die Regierungen und Eliten des Landes,
– sie solidarisieren die Bevölkerung im betroffenen Land und verhärten den Konflikt, statt ihn zu lindern,
– Ökonomen bezweifeln deren Wirksamkeit, und
– Sanktionen führen selten zum beabsichtigten Wechsel des politischen Regimes.
Das eindrücklichste Beispiel dafür sind die umfassenden Sanktionen der USA gegen Kuba. Sie wurden vor mehr als 60 Jahren einzig deshalb ergriffen, weil den USA das politische Regime des kleinen Nachbarn bis heute nicht gefällt.
Wir unterstützen deshalb die Forderung der Neutralitätsinitiative, dass sich die Schweiz grundsätzlich an keinen Sanktionen gegen kriegsführende Staaten beteiligt. Von diesem Verfassungsgrundsatz soll es zwei Ausnahmen geben; beide sind wichtig.
Die erste Ausnahme betrifft die UNO. Als deren Mitglied ist die Schweiz -wie alle anderen Staaten – völkerrechtlich dazu verpflichtet, UN-Sanktionen mitzutragen. Die zweite Ausnahme betrifft vor allem die EU und die nordamerikanischen Partnerstaaten. Es ist damit zu rechnen, dass sie auf die Schweiz als bedeutenden Handelspartner Druck ausüben werden, sich ihren Sanktionen anzuschliessen, unter anderem um deren Umgehung über die Schweiz zu verhindern. Deshalb kann die Schweiz Massnahmen ergreifen, um diese Umgehung zu verhindern. Die Neutralitätsinitiative lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Schweiz im Prinzip auf Sanktionen verzichten will.
Weiterhin hat die Schweiz, wie jeder andere Staat, das souveräne Recht, mit eigenen Sanktionen den Handel mit Drittstaaten zu fördern oder zu erschweren. Dabei entkommt sie aber der Wahrnehmung durch andere Staaten nicht: Wer Wirtschaftssanktionen verhängt, verliert seine Glaubwürdigkeit als neutraler Vermittler.