Abschied von der Vorherrschaft des Westens
von Verena Tobler
Die neutrale Schweiz ist Teil des Westens, aber nicht Teil der westlichen Grossmacht-Politik.
Der Westen hat sich in den letzten 500 Jahren eine extrem ungleiche Weltwirtschaft erschaffen, in der er bis heute dezidiert eine Vormachtstellung einnimmt. Nur ist die derart globalisierte Wirtschaft weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Zudem ist sie – statt horizontal – vertikal integriert.
In Reaktion auf die weltweiten Ungleichgewichte findet seit Jahrzehnten eine Einwegwanderung in die westlichen Wohlfahrtzentren statt. Statt den dringend nötigen Ausgleich zwischen reichen und armen Staaten bringt das der Welt das Gegenteil: der westliche Überkonsum wird zum globalen Massstab. Und so werden die Ungleichgewichte laufend vertieft, legitimiert, stabilisiert, während die Biodiversität abnimmt und das Klima sich weiter erhitzt. Kommt dazu, dass die weltweite soziale Polarisierung zwischen arm und reich vermehrt Kriege zwischen den Staaten auslöst, während es im Innern vieler Länder zu Unruhen und Bürgerkriegen kommt. Dabei sorgen beide, die laufende militärische Aufrüstung und die Kriegsaktivitäten, dafür, dass die ökologische und klimatische Belastung weiter zunimmt. Und so fehlen sie uns nun erst recht: die Mittel, um die soziale und ökologische Nachhaltigkeit anzugehen. Kurz: Wir drehen uns in einem verheerenden Teufelskreis. Nur der Verzicht auf die westliche Vorherrschaft und die damit direkt verbundene Übernutzung des Planeten kann Linderung bringen.
«Neutralität» ist ein sinnvolles Konzept, um Auswege aus diesem Teufelskreis zu finden:
• Neuralität ist die Voraussetzung, um Konflikte zu verhindern, zu vermitteln und Frieden zu stiften;
• Neutralität ist nötig, um künftig gemeinsam am weltweiten Ausgleich zu arbeiten.

Abschied von der Vorherrschaft des Westens
Fünf hundert Jahre lang hat der Westen die Welt beherrscht. Mit seinem überlegenen Machtapparat konnte er sich – dank Eroberung, Kolonialherrschaft, Sklaverei, Ausbeutung – eine Welt zu seinem eigenen Vorteil erschaffen: eine Weltordnung, die zudem rassistisch legitimiert wurde.

In beiden Weltkriegen, alle beide vom Westen ausgelöst und geführt, spielten Kolonialinteressen eine zentrale Rolle: Konkurrenz gab’s um den Zugriff auf Land, Rohstoffe, Arbeitskräfte, Märkte. Als sich aber dann nach dem zweiten Krieg zahlreiche Völker zu befreien begannen, brauchte der Westen ein neues Modell, um sich seine Vormachtstellung zu erhalten. Nun wurde der Freihandel mit seinen komparativen Kostenvorteile propagiert. Zwar hatte der Ökonom Ricardo recht: beide Seiten erzielen Vorteile! Doch sind die Vorteile für die Staaten, deren Wirtschaft mit dem überlegenen energetisch-technologischen, finanziellen und legiferierenden Machtapparat ausgestattet ist, weit grösser als für die armen Länder. Rechnen wir noch das ebenfalls machthaltige wissenschaftliche Know How dazu, wird das Gefälle geradezu schwindelerregend.
Arme und strukturschwache Staaten stecken deshalb in einer doppelten Falle. Erstens sind sie unter dem Freihandelsregime bis heute gezwungen, landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe an die hoch entwickelten Länder zu liefern. Auf diese Weise entsteht eine extrem vertikale Form der Weltwirtschaft: die reichen Staaten werden mit landwirtschaftlichen Produkten beliefert – von Kleinbauern oder in Plantagen angebaut, sowie mit seltenen Erden und Rohstoffen, vor allem von westlichen Grossskonzernen organisiert und geriert. Das bringt zwar den Regierungen in den armen Staaten ein Einkommen und den Ober- und Mittelschichten die nötigen Devisen für ihren Importgüterkonsum. Zweitens aber stattet diese vertikale Form der Integration die Regierung im strukturschwachen Staat mit enorm viel Macht aus – entsprechend gross ist die Korruption. Darüber wird zwar weltweit gejammert. Dabei es handelt sich um ein Systemproblem: eine Form der wirtschaftlichen Organisation, von der die Bevölkerung grossmehrheit wenig bis gar nichts hat. Und so fehlen in armen Staaten noch heute: ein lokales Gewerbe, eine ausreichende Zahl an Erwerbsarbeitsplätzen, eine lokal orientierte Infrastruktur, eine ebensolche Nachfrage und ein entsprechendes lokales Steueraufkommen – keine Chance für eine horizontale Integration. Mit dieser Strukturschwäche direkt verbunden: Im armen Staat fehlen auch die Voraussetzungen für eine funktionierende moderne Demokratie, denn Letztere basiert primär auf monetär basierten Rollen und Institutionen.
Konkret: Wo nur eine Minderheit der Bevölkerung eine formelle Erwerbsarbeit hat, bleibt die Mehrheit für ihr Überleben und für ihre soziale Sicherheit auf familiale Solidarität angewiesen. Das heisst: die Verwandtschaftsbeziehungen sowie die Generationen- und Geschlechtsrollen bleiben verbindlich. Für überfamiliale Solidarität sind bestenfalls, wie früher bei uns, die Religion und die Religionszugehörigkeit entscheidend – die Muslimbrüder und die Taliban lassen grüssen.
So waren im Jahr 2021 4.1 Milliarden Menschen, damals die Majorität der Menschheit, ohne monetäre Absicherungen von der Art wie sie derzeit z. B. in der Schweiz für alle garantiert sind – für Einheimische und für Zugewanderte: eine Alters- und Arbeitslosenversicherung, Krankenkassen und Fürsorgegelder. Aber warum nur ignorieren wir so beharrlich, dass im westlichen Wohlfahrtsstaat die einstmal verbindlichen Primärrollen durch die monetär basierten Erwerbs- und Berufsrollen ersetzt werden konnten? Und weshalb blenden wir aus, dass bei uns an Stelle der Primärrollen die Berufsrollen verbindlich geworden sind? Die letzteren nota bene extrem hierarchisch geordnet und zudem auch noch hoch ungleich entschädigt.

Das Fazit: Weil arme Staaten bislang vertikal in die Weltwirtschaft integriert wurden, sind Armut, Elend, Landflucht das Resultat. Viele wandern deshalb ab – nach Europa oder in die USA. Und so konnte der Westen dank dem liberalen und neoliberalen Weltwirtschaften seine Vormachtstellung bislang erhalten – eine Position, die allerdings auf die Dauer dem Untergang geweiht ist.
Denn zum einen holen die BRICS-Staaten auf und zwar schnell. Dies sind alles Länder, die erstens über einen relativ grossen eigenen Markt verfügen. Zweitens – und weit wichtiger: China und Indien kannten bereits vorkolonial bzw. seit vielen Jahrhunderten eine staatliche Organisation, Schrift, Buchhaltung, Geld, Arbeitsteilung und eine berufliche Ausbildung. Die asiatischen Kleinstaaten mit vergleichbarer Ausstattung wurden ebenfalls zu wirtschaftlichen Konkurrenten für den Westen. Und das, weil sie sich der Weltwirtschaft erst öffneten, nachdem sie sich auf einen Stand gebracht hatten, mit dem sie im globalen Wettbewerb mithalten konnten. Zum andern aber macht die grenzenlose Einwanderung in die Wohlfahrtsstaten inzwischen der dort ansässigen Bevölkerung zu schaffen.
So gerät die Vormachtposition des Westens ins Wanken. Der wichtigste Grund dafür, dass die USA und die EU derzeit alles tun, um sich ihre Macht und die monopolare Weltordnung zu erhalten. Die einstige britische Aussenministerin Liz Truss hat das Problem so auf den Punkt gebracht: «Wir brauchen eine Wirtschafts-NATO, um unseren Lebensstandard zu erhalten.» Vereint in der NATO rüsten die westlichen Staaten massiv auf – damit steigt das Risiko für einen Dritten Weltkrieg.
Das westliche Vorhaben ist in vielfacher Weise absurd!
• Absurd, weil der monopolare Machtanspruch der USA weder legitim noch dauerhaft zu halten ist.
• Absurd, weil die westliche Wertegemeinschaft beharrlich die Voraussetzungen ausblendet, auf denen ihre Ordnungsvorstellungen und der Wohlfahrtsstaat basieren: der überlegene Machtapparat, das grenzenlose Weiterwachsen und der uneingeschränkte Zugriff auf die globalen Ressourcen, um das absurde Triumvirat beim Namen zu nennen.
• Absurd, weil der Westen an einer Weltwirtschaftsordnung festhält, welche hier wie dort die Biodiversität zerstört und für alle, reich und arm, die Klimaerwärmung bringt.
• Absurd, weil die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit extremen Ungleichgewichten einhergeht und der Westen gleichzeitig seinen eigenen Überkonsum zum globalen Massstab macht.
• Absurd, weil so dafür gesorgt ist, dass die globalen Ungleichgewichte erhalten bleiben und die Einwegmigration weiter zunehmen wird.
• Absurd, weil auf diese Weise die Zukunft zu einem Teufelskreis missrät: die systembedingten Ungleichgewichte – Überkonsum hier, Unterkonsum und Elend dort – bleiben erhalten, ja werden durch die Einwegmigration in Richtung Nord laufend vertieft und stabilisiert.

Das europäische Lichtermeer und jene, die gezwungen sind, im Dunkeln zu leben.
Die Schweiz ist zwar Teil des Westens, war aber bislang nicht Teil der unipolaren Grossmachtpolitik wie sie von den USA und der NATO angestrebt wird
Die westliche Wirtschafts- und Machtpolitik bewirkt, dass die soziale Polarisierung weltweit zunimmt: die Konflikte zwischen Ost und West sowie zwischen Süd und Nord nehmen genauso zu wie jene zwischen und innerhalb der Staaten. So kommt es in vielen armen Ländern zu Bürgerkriegen, während sich an den äussersten Rändern der Weltwirtschaft sog. Terror- bzw. Widerstandsbewegungen formieren. Sogar im Innern der westlichen Staaten zerfällt der Konsens zusehends: die alten Demokratien werden ausgehöhlt, die demokratische Regeln ausser Kraft gesetzt und die Medien informieren nicht mehr umfassend und allseitig, gründlich und sachgemäss.
Da machen wir Schweizerinnen und Schweizer nicht mit!
Denn Auswege lassen sich finden. Allerdings weder aus dem weltwirtschaftlichen Hochoben der westlichen Staaten noch vom kriegerischen NATO-Verband. Auch wenn der Schweizer Bundesrat die Neutralität aufgeben und verraten will und obwohl Teile des Parlaments und die Schweizer Mainstream-Medien inzwischen geradezu kriegslüstern sind:
Wir setzen unsere Hoffnung auf das Schweizer Volk!
Wer sich eine ökologisch und sozial nachhaltige Zukunft erwahren will, der weiss, dass auf unserem ökologisch und kulturell so diversen Planeten Vielfalt statt Einfalt gefragt ist. Horizontale statt vertika-le Orientierung und Integration sind nötig für einen Ausgleich. Nur so kann ein allseitiger Austausch im gegenseitigem Respekt erfolgen. Dabei ist «Neutralität» die unabdingbare Voraussetzung für alle, die Konflikte verhindern oder lösen und zu einem allseitigen Frieden beitragen wollen.
Kurz: Schreiben wir uns eine Neutralität in die Verfassung, die weltweit glaubwürdig ist – und zwar, weil sich unser Land zur Arbeit am Frieden und Ausgleich verpfichtet!

Die Neutralitätsinitiative sorgt dafür, dass die Schweiz künftig die UNO zum Referenzrahmen nimmt. Zum einen, was die Sanktionen gegen andere Staaten betrifft, zum andern mit Blick auf Vermittlungsaufgaben und die Arbeit am Frieden.
Von den Völkern mehrheitlich ernst genommen wird diese Form der Neutralität, weil sie unverzichtbar ist, um Konflikte zu lösen, und weil sie die Schweiz explizit zur Arbeit am Ausgleich und Frieden verpflichtet. Fertig mit Schmierenkomödien wie sie auf dem Bürgenstock auf Kosten der Schweizer Steuerzahler aufgeführt wurde: Diese Kriegskonferenz – nach den Wünschen von Selensky gestaltet, hatte ein falsches Narrativ zur Grundlage. Denn sogar Stoltenberg, der Generalsekretär der NATO, hat bestätigt: der Krieg in der Ukraine hat bereits 2014 (!) begonnen. Im Klartext: Nachdem die USA – konkret: Victoria Nuland zusammen mit faschistischen Gruppierungen – den Maidan dazu genutzt hatten, den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch zu stürzen.
Eine Neutralität, die sich der Friedensarbeit und am Ausgleich orientiert, bringt folgende Pflichten:
1. Die Schweiz, d.h. der Bundesrat und die Mainstreammedien haben die Bevölkerung auch in Kriegszeiten allseitig und umfassend, gründlich und faktenorientiert zu informieren.
2. Unser Land hat – inmitten von Widersprüchen und oft chaotischen Verwicklungen – a priori unparteilich zu sein und soll das auch bleiben.
3. Für den Frieden und horizontalen Ausgleich engagiert, ist die Schweiz angewiesen auf den Sinn für national-territoriale Verantwortung und für nahräumliche Achtsamkeit. Nur so lassen sich soziale Polarisierung und wirtschaftlichen Ungleichgewichte weltweit sozial und ökologisch nachhaltig abbauen. Alles andere führt in einen neoliberalen Totalitarismus, der sich an den Grossmächten orientiert und uns weltweit Überwachungsstaaten bringt.
Deshalb ein Plädoyer an unsere Landsleute:
Lassen wir die manichäischen Weltbilder hinter uns, überwinden wir das parteipolitische Lager- und Sackgassendenken! Fechten wir mit Sachargumenten und muten wir uns die dringend nötigen Sachdebatten wieder zu. In überkomplexer Situation sind überparteiliche Gespräche nötig und sinnvoll – sie machen komplexitätsintelligent!
Packen wir’s zusammen an!