Die 8 Themen der Neutralität

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Die UNO, die NATO und das Völkerrecht

von Pascal Lottaz

Neutralität im Dienste der UNO und des Völkerrechts hilft allen Staaten.

1945 bekundete die UNO erhebliche Mühe mit den neutralen Staaten. Heute jedoch ist die UNO eine Organisation, welche der Neutralität hohe Wertschätzung entgegenbringt. So hat sie 2017 den 12. Dezember zum UNO-Tag der Neutralität erklärt. Ihre Blauhelm-Einsätze zur Friedenssicherung in Krisengebieten sind der Neutralität verpflichtet: Sie erfolgen auf Einladung von Krisengebieten und verlangen die politische Unparteilichkeit gegenüber den Konfliktparteien. Nicht zuletzt auch von den Erfahrungen des Roten Kreuzes und der Schweiz hat die UNO gelernt, dass politische Neutralität zur Erfüllung von Friedensmandaten unerlässlich ist. Im Völkerrecht gibt es kaum einen Status, der so detailliert festgeschrieben steht wie derjenige der Neutralität. Über die letzten 800 Jahre hinweg hat er nicht nur Kleinstaaten wie der Schweiz gedient, sondern auch Grossmächten. Im 21. Jahrhundert sollte die völkerrechtliche Neutralität weiterentwickelt werden, denn sie dient der Eindämmung kriegerischer Gewalt und der friedlichen Verständigung. Die seit über 200 Jahren international anerkannte Neutralität der Schweiz kann mit ihren Erfahrungen dazu beitragen.

Wie Frieden gesichert werden kann: Zwei unterschiedliche Konzepte

Die UNO und die völkerrechtliche Neutralität stehen in einem Spannungsverhältnis. Die UNO ist um das Prinzip der kollektiven Sicherheit aufgebaut. Die UNO versteht sich als zentrale Friedenssicherungsorganisation auf der ganzen Welt. Sie verbietet allen Ländern Kriege und unterbindet diese wenn möglich. Im Gegensatz dazu ist die völkerrechtliche Neutralität ein Ansatz zur Eindämmung von Krieg — aber nicht zu seiner Verhinderung. Neutrale Staaten verweigern sich dem Krieg, sie versuchen ihn aber nicht selbst durch Waffengewalt zu unterbinden – was ein Widerspruch zur Neutralität wäre.
Die UNO-Vision des Weltfriedens folgt den idealistischen Gedanken des Philosophen Immanuel Kant. In seinem Aufsatz «Zum Ewigen Frieden» schlägt er eine Weltregierung vor, um den ganzen Planeten zu befrieden. Die völkerrechtliche Neutralität dagegen gehört zum Werkzeugkasten der Pragmatiker, die Krieg als hässliche Tatsache der Staatenwelt hinnehmen. Aber sie hoffen, dessen Auswirkungen einzudämmen durch die Nicht-Teilnahme von so vielen Staaten wie möglich. Weiter versuchen sie, Kriegsgewalt durch Diplomatie zu befrieden und humanitäre Hilfe zu leisten. Wäre jeder Staat der Welt dauernd neutral, so hätten wir auch Frieden zwischen allen Staaten.
Der Grundgedanke der UNO, Weltfrieden zu schaffen, ist ein Konzept von oben herab, «top-down». Die völkerrechtliche Neutralität will dasselbe erreichen, aber von unten nach oben, «bottom-up». Bisher hat keiner der beiden Ansätze je das hohe Ziel eines weltweiten Friedens erreicht.
Zwar hat die Staatengemeinschaft den Krieg als Mittel der Aussenpolitik wiederholt verboten (1919 durch die Satzung des Völkerbundes, 1928 durch den Kellogg-Briand Pakt und 1945 durch die Charta der UNO). Dennoch sind Gewalt und Krieg in den internationalen Beziehungen keineswegs verschwunden. Lediglich die Wörter dafür haben sich geändert. Anstatt von «Krieg» sprechen Völkerrechtler von «Bewaffneten Konflikten», anstatt vom «Kriegsrecht», redet man heute vom «Humanitären Recht». Was uns geblieben ist, sind die «Kriegsverbrechen», von denen wir hören, wenn das Humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten verletzt wird. Dennoch finden Kriege statt – wir sehen sie täglich in Wort und Bild.
Wie können sich UNO-Friedensordnung und die Neutralität ergänzen, so dass sie – gewissermassen als «Tandem» – mehr für den weltweiten Frieden erreichen könnten? Ansätze dazu gibt es.

Die Nachkriegsordnung

Die Nachkriegsordnung 1945 wurde fast ausschließlich von den Siegern des Zweiten Weltkriegs bestimmt. Dies galt auch für die Vereinten Nationen. Um zur Gründungskonferenz 1945 in San Francisco eingeladen zu werden, musste ein Land nicht nur souverän sein (was die Kolonialgebiete ausschloss), sondern musste zudem eine von zwei Bedingungen erfüllen: Teilnehmen durften nur Länder, die entweder die UN-Erklärung von 1942 unterzeichnet hatten, die das Kriegsbündnis gegen die Achsenmächte ins Leben rief, oder sie mussten vor März 1945 eine Kriegserklärung gegen die Achse erklärt haben. Die Ironie für die Neutralen bestand in den Worten des Historikers J.M. Gabriel darin, dass diejenigen, „die im Frieden geblieben waren, nun den Krieg erklären mussten, um einer Organisation beizutreten, die den Krieg abschaffen und den Frieden bewahren wollte!“ Von den Europäischen Neutralen folgte nur die Türkei diesem Aufruf und erklärte Deutschland Ende Februar gerade noch rechtzeitig pro-forma den Krieg. Die meisten anderen Neutralen (Irland, Portugal, Spanien, Schweiz, Schweden, Afghanistan, u.a.) hielten an ihren Positionen fest und wurden daher nicht nach San Francisco eingeladen.
Es überrascht daher nicht, dass die frühe UNO der Idee der Neutralität feindlich gegenüberstand. Die französische Delegation schlug sogar eine Bestimmung in der UN-Charta vor, die Länder mit dauernder Neutralität von einem UNO-Beitritt ausschloss. Der Vorschlag wurde nur fallengelassen, weil die anderen Delegationen darin übereinstimmten, dass die Charta in dieser Hinsicht bereits ausreichend klar sei. Trotzdem argumentierten Juristen jahrelang, dass neutrale Länder keine Mitglieder der UNO werden könnten. Immerhin siegte die Realpolitik rasch über den juristischen Dogmatismus. Schon 1946 wurden die ersten neutralen Staaten des Zweiten Weltkriegs (Afghanistan, Island und Schweden) in die UNO aufgenommen.

Die Anfänge des Neutralitätsrechts

Die klassische Neutralität war eine (europäische) Tradition, die aus dem Seerecht hervorging, wobei die frühesten Spuren auf das „Consolato del Mare“ zurückgehen. Das war eine Sammlung von maritimen Handelspraktiken aus dem 13. Jahrhundert, welche die Handelsregeln im Mittelmeerraum während den Kriegen von Drittstaaten darlegten. Zusammen mit den später formulierten Praktiken der land-basierten Neutralität entstanden Neutralitätsnormen, die sich im Lauf der Zeit zu internationalem Gewohnheitsrecht und Vertragsrecht entwickelten. Dieser Prozess gipfelte in den Haager Konventionen von 1899 und 1907, die den größten Versuch einer multilateralen Kodifizierung des Kriegs-, Friedens- und Neutralitätsrechts darstellten. Während dieser Entwicklung wurde die Neutralität hauptsächlich als kommerzielles, militärisches und vor allem rechtliches Problem behandelt, das Staaten betraf, die sich nicht an der Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Kriegsparteien beteiligten.
Neutralität in diesem Sinne war ein Konzept, das allen Staaten zu jeder Zeit offenstand und von Fall zu Fall genutzt werden konnte. Die Haager Konventionen waren daher nicht in erster Linie für dauernd neutrale Staaten wie die Schweiz verfasst worden, sondern für Fälle von „gelegentlicher Neutralität“ aller Nationen. Die immerwährende Neutralität, wie sie die Schweiz nach 1815 praktizierte – das Versprechen, niemals an einem Krieg auf der Seite irgendeiner Partei teilzunehmen – war damals eine Ausnahme. So erwähnte die Haager Konventionen nicht einmal die Pflicht der Neutralen, sich während Friedenszeiten aus Militärbündnissen herauszuhalten.

Friedensbemühungen im Kalten Krieg

Die Normen für die Neutralität zu Friedenszeiten haben Staaten wie die Schweiz und seit 1955 auch Österreich Stück für Stück eigenständig weiterentwickelt. Zum Beispiel haben beide mit Geschick ihren Status genutzt, um zwischen Kriegsparteien zu vermitteln. Genf und Wien entwickelten sich zu internationalen Städten der Diplomatie. Die Schweiz ist Depositarstaat von mehr als 70 internationalen Verträgen- dreimal mehr als etwa Deutschland. Sie beteiligte sich stark an der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Sie gemühte sich im Kalten Krieg um die Deeskalation des West-Ost-Konflikts . So stellte die Schweiz 2017-20 den Generalsekretär der Nachfolgeorganisation OSZE. Weiterhin unterstützt die Schweiz mit diplomatischer Hilfe das Internationale Rote Kreuz, damit es in Kriegs- und Krisengebieten humanitär tätig sein kann. Das sind wichtige Funktionen, die neutrale Länder und Organisationen in der Staatenwelt wahrnehmen. Das lernte auch die UNO schätzen und dankt es ihnen seit 2017 mit dem Tag der Neutralität.

Perspektiven

Obwohl die UNO-Charta und das moderne Völkerrecht Kriege verbieten, sind diese nie verschwunden. Daher hat die Neutralität ihre Rolle in «bewaffneten Konflikten» nicht verloren. Zwar geht die Initiative zur Vermittlung in kriegerischen Auseinandersetzungen heute zumeist von der UNO aus, aber diese ist nach wie vor auf Personen angewiesen, die für Unparteilichkeit in Vermittlungsprozessen glaubwürdig sind. Neutrale Staaten und ihre Vertreter werden deshalb weiterhin gebraucht – hin und wieder sogar dringend. Das sind Ansätze eines «Tandems», mit dem sich die Friedensförderung von «oben» (UNO) und von «unten» (neutrale Vermittlung) vorteilhaft für alle Teile verbinden. Die seinerzeitigen Vorbehalte gegen die Neutralen nach dem Zweiten Weltkrieg sind darum Geschichte. Damit Neutralität diplomatisch funktioniert, muss sie aber glaubwürdig gelebt werden und beide Seiten eines Konfliktes überzeugen. Deshalb gehört eine nicht-partei ergreifende Neutralität – sowohl militärisch wie wirtschaftlich – in die Schweizer Bundesverfassung.

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